Verschleppt ans Ende der Welt

04.11.2013

Bildinhalt: Verschleppt ans Ende der Welt  | Else Thomas berichtet über ihr Schicksal. / Foto: André Kempner
Else Thomas berichtet über ihr Schicksal. / Foto: André Kempner
 

Zeitzeugin Else Thomas berichtet über die Jahre im sibirischen Arbeitslager

Leutzsch. Wie verändern Kriege Menschen? Was geschieht mit den Frauen, wenn Normen auseinander brechen? In einer Zeit, in der junge Leute ihre Zukunft planen, wird Else Thomas mit Tausend anderen Frauen in Züge gepfercht und in ein sibirisches Internierungslager verschleppt. Im Verbannungsgebiet Stalins sollen sie deutsche Kriegsschuld abarbeiten. Mehr als ein Drittel dieser Frauen wird nicht zurückkehren. Sie sterben an Schwäche, Seuchen, Unterernährung.

Jahrzehntelang waren die Deportationen des sowjetischen Geheimdienstes (NKWD) mit einem Tabu belegt. Seitdem über die Zwangsarbeit in den Gulags gesprochen werden kann, macht sie Else Thomas öffentlich. Unter dem Thema "Verschleppt an das Ende der Welt" hält die Zeitzeugin - im Auftrag der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung - Vorträge in öffentlichen Einrichtungen. Über die Jahre im Internierungslager berichtete die Leutzscherin kürzlich auch in der Gnadenkirchgemeinde Wahren. "Damit sich das Geschehen nicht wiederholt und sich die Menschen auf ihre guten Eigenschaften besinnen", so die 87-Jährige.

Thomas wird 1926 in Niederschlesien geboren. "Ich war ein fröhliches, zurückhaltendes Mädchen, hatte noch nichts Böses erfahren. Wir Kinder sind viel draußen in der Natur gewesen und haben für uns die Welt entdeckt." Eine Erinnerung, die ihr später Kraft geben wird, schlimme Jahre zu überstehen. Dann kam der Krieg vor ihre Haustür. "Spät, im Februar 1945, bin ich mit meiner Mutter und den zwei Geschwistern geflohen. Wir steckten mitten im Kampfgebiet, was uns nicht klar war. Tagsüber verkleideten wir Mädchen uns wie alte Weiber, nachts versteckten wir uns im Altarschrank einer Kapelle." Dennoch wird Else Thomas Zeugin wie abgestumpfte und alkoholisierte Männer über Frauen herfallen. "In der Dunkelheit suchten sie sich die Opfer aus."

Es ist der 1. Osterfeiertag 1945 als die damals 18-Jährige auf einen offenen Güterwagen gezerrt wird - Ziel ist ein Arbeitslager im westsibirischen Kemerowo. "Doch schon unterwegs sind viele Frauen an Schwäche gestorben. Im Gulag angekommen, lagen die Baracken unter der Erde. Es war immer dunkel. Überall gab es Ungeziefer und Ratten. Man war froh, Tageslicht zu sehen. Doch die Arbeit war schwer: Mit blutenden Händen verluden wir heiß gebrannte Ziegelsteine. In Gedanken haben wir gekocht, um den ständigen Hunger zu vergessen. Mut hat uns auch das Singen gemacht. Wir wollten leben. Wir wollten wieder nach Hause. Das war das Schlimmste, nicht zu wissen, wann und ob es je möglich sein wird."
Zudem konnte Else Thomas nicht allen trauen: "Es gab Gemeinschaftssinn unter den Deportierten und es gab Misstrauen, Neid und Missgunst. Auch unsere Leute kratzten sich ein, wurden zu Spitzeln, die Gerüchte in die Welt setzten, um sich über die Gefangenschaft zu retten. Dieses stalinistische Spitzelsystem verdirbt den Charakter."

Else Thomas überlebt. Am 22. Oktober 1949 kehrt sie mit Holzkoffer und Wattejacke in die gerade gegründete DDR zurück. "Ich hatte kein Selbstbewusstsein und Angst vor Menschen." Angesprochen auf ihre Zeit im Gulag wird Else Thomas von staatlicher Seite nie. "Die ersten Jahre habe ich gedacht, dass wir ein besseres Deutschland aufbauen", erzählt die christlich engagierte Leipzigerin. Nach ihrer Rückkehr studiert Thomas Binnenhandel, erzieht eine Tochter und einen Sohn und arbeitet bis 1990 im Konsumgenossenschaftsverband.

Eine Entschädigung für die Jahre der Zwangsarbeit erhält sie nicht. Das tue ihr für die vielen anderen Frauen leid - doch ihre Lebensfreude möchte sich Else Thomas nicht nehmen lassen. "Solange ich gesundheitlich kann, will ich aufklären: Gewalt darf kein Mittel sein, um Konflikte zu lösen", mahnt die 87-jährige Zeitzeugin.

Text von Ingrid Hildebrandt

Leipziger Volkszeitung, vom 01. 11. 2013


Nachricht vom 04.11.2013
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